Von der Seele unserer Wege

Wie sich die Wege im Wald verändern

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Gebiet 1: Nördlich der Hohen Liebe
Gebiet 2: Unterhalb der Affensteine
Gebiet 3: Oberhalb der Rotkehlchenstiege
Gebiet 4: Kleiner Winterberg
Gebiet 5: Großer Winterberg

Spuren lesen, Pfade finden

Wird es immer verrückter mit den vielen Wanderern? Die nehmen immer mehr überhand und latschen die Wege immer breiter aus? Oder aber – wächst alles immer mehr zu? Gibt es etwa immer mehr Sperrungen aus Naturschutzgründen und damit immer weniger Wege?

All das passiert durchaus auch, das trifft aber nicht den Kern. Wanderbegangenheit (einerseits) und „Naturschutz-Beruhigung“ (anderseits) bewirken nur einen ganz kleinen Teil der Veränderungen unserer Wege. Damit meine Karten immer aktuell bleiben, gehe ich regelmäßig raus und überprüfe die Wege. Dabei spüre ich der Seele der Wege nach, ihrem Werden und Vergehen.

Wege sind Lebewesen. Die Quelle ihres Lebens ist die Begangenheit durch uns Menschen. Wege sind unsere Spuren, so der Hallenser Autor Axel Mothes. Wenn Wege begangen werden, so hat dies Ursachen. Und die Ursache, warum ein Weg begangen wird, hängt ganz eng mit seinem Zweck zusammen. Wozu ein Weg dient, das schlägt sich oft schon an der Wegebezeichnung nieder: Ein Weg ist ein Wanderweg, ein Forstweg, ein Jagdweg. Wege sind Klettergipfelzugänge, Schmugglerwege, Holzrückewege, Spazierwege, Grenzwege, Weidewege, Feldwege. Solange ein Weg einen Zweck erfüllt, solange wird er begangen und solange wird er Lebenskraft haben.

Es gibt breite und schmale Wege. Um dies wiederzugeben, gibt es in der Kartenlegende verschiedene Wegklassen:

Wegklassen

Also auf ins Gelände. Wie sich Wege verändern, kann man am Beispiel der Aktualisierung zur 8. Auflage meines Kartentitels „Schrammsteine – Affensteine 1 : 10 000“ hautnah verfolgen. Im Gelände werden Kartierungen zunächst in sog. Feldbüchern (in der Schweiz: Feldkartons) vorgenommen. Diese kommen dann – ergänzt und lokalisiert mit GPS-Tracks – in eine Kartenentwurfszeichnung, das „Laufendhaltungsoriginal“. Was gibt es da nicht alles für Änderungen?! Ein kleines Gebiet, das man in einigen Minuten durchwandert ohne sich groß Gedanken zu machen, ist für den kartierenden Kartographen im Gelände schnell ein halber Tag Arbeit.

Schrammsteine

In fünf Teilgebieten können wir den Wegen im Schrammstein-/Affensteingebiet auf die Spur kommen. Diese sind oft nur wenige hundert Meter groß:

Nördlich der Hohen Liebe:

Wenn ein Weg nicht mehr begangen wird, wächst er zu

Schrammsteine

 

Unterhalb der Affensteine:

Es ist die Seele von einem Holzrückeweg, dass da ganz schön Tonnage drüber muss

Unter den Affensteinen

 

Oberhalb der Rotkehlchenstiege:

Wo schon immer gewandert wird, ist das Wegenetz langfristig stabil ...

Oberhalb der Rotkehlchenstiege

 

Kleiner Winterberg:

Naturschutzmaßnahmen können Wege allmählich zuwachsen lassen ...

Kleiner Winterberg

 

Großer Winterberg:

Manchmal verschwinden Wege einfach, ohne dass wir es merken ...

Großer Winterberg

 

Schließlich ist alles begangen und aufgenommen. Dabei haben wir die unterschiedlichsten Wegursachen kennengelernt: Forstnutzung, die die Wege offenhält; das Wandern, das die vielen kleinen Pfade schon immer stabil erhält; die Kernzone kann im Nationalpark für eine Begängnisverringerung sorgen; wo der Jäger regelmäßig zu seinem Anstand geht, bildet sich ein Weg heraus; und schließlich können Wege verschwinden, wenn sie gar nicht mehr genutzt werden. Das kann manchmal sogar abgelegenen Wanderwegen passieren.

Natürlich gibt es auch viele Aktualisierungsanstände, die nicht das Wegenetz betreffen. Insgesamt haben sich in den 9 Jahren, 2006 bis 2015, über 200 Änderungen angesammelt. Nun wird die Karte aktualisiert und dann kann sie in den Druck gehen.

Wer ganz genau wissen will, was sich alles geändert hat: Hier die gesamte Differenzkarte im Großformat. Neueintragungen sind schwarz, Tilgungen rot gekennzeichnet:

Schrammsteine


Kein Grund zur Panik

Weder wächst alles zu, weil die Nationalparkverwaltung alles sperrt. Es gibt Sperrungen, diese sind aber nicht immer wirksam, sondern können auch ignoriert werden. Besucherlenkungsmaßnahmen haben aber auch Erfolg, besonders dann, wenn sie nachvollziehbar sind, nicht zu Großgebietssperrungen führen und allgemein akzeptiert werden. Es wird aber auch nicht alles immer überlaufener, ein Naturkollaps wegen „touristischer Übernutzung“ ist nicht in Sicht. Insbesondere auch in dem Kartengebiet nicht, das man ja getrost als Herz der Sächsischen Schweiz und Top-Wandergebiet Deutschlands einstufen kann. Die Wanderwege bilden, oft als kleine, romantische Pfade ausgeprägt, seit Generationen ein verlässliches, langfristig stabiles Wegenetz. Dessenungeachtet gibt es auch im Kartengebiet zahlreiche kleine Nebenwege in Randbereichen. Hier kann es durchaus vorkommen, dass diese Wege zuwachsen, besonders, wenn sie nicht zu Wanderzielen führen. Wanderer, hier bitte nicht schnell aufregen, wenn da gelegentlich Forstgroßgeräte entlangfahren, sondern auch mal bedenken: Da ist anschließend vielleicht wieder für 20 Jahre der Weg freigeräumt.

Warum wir so an unseren Wegen hängen

Letztendlich kündet das Wegenetz vom Sein von uns Menschen auf unserer Mutter Erde. Unsere Wege sind unsere eigenen Spuren und es ist Teil unseres Lebens, immer wieder nach diesen Spuren zu suchen und die Wege, die Menschen vor uns gegangen sind, offenzuhalten, zu achten und weiter zu benutzen. Wenn es in einer Landschaft keine Wege mehr gibt, mag das für Romantiker ein netter Gedanke sein: Der alte Urwald aus glücklichen Vorzeiten, rauschende Eichen und Tannen, die alte Naturlandschaft. Heutzutage packen die Wissenschaftler das gern in Studien und nennen es „potentiell natürliche Vegetation“. Okay, hat was.

Dabei vergessen wir aber gern, dass unser Erdenraum vor der Anlage einer menschlichen Kultur ein lebensfeindliches Gebiet war. Die erste Kultivierungsleistung in einer Naturlandschaft ist immer, dass sich da Wege herausbilden. Zuerst kommen die Pfadfinder, dann die Siedler. Unsere Urgroßeltern hatten es als Landwirte gelegentlich noch drauf, sich als Selbstversorger mit Sense und Ziege noch ein bisschen selber ernähren zu können. Wir mit unseren heutzutage üblichen hochspezialisierten Bürojobs hingegen schaffen das nicht mehr. Wir würden es doch in einem unwegsamen Eichen-Tannenwald, so romantisch er auch sein mag, nur auf uns gestellt, keine fünf Tage aushalten. Nicht Naturromantik, sondern Vermeidung von Hunger wäre dann unser Grundgefühl, Elend und Jammer. Die Alten haben das noch intuitiv gespürt und den unwegsamen Wald da draußen noch so bezeichnet, wie wir heute nur noch die Sahara nennen — „So unbarmherzig war Frau Gotel, daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.“ — eben als Wüste.

Es ist ein zentrales Anliegen von Nationalparks, Naturlandschaften zu bewahren. Was bedeuten kann, dass man dann, wenn so ein Park nun mal in einer vorhandenen Kulturlandschaft errichtet werden soll, da versucht, irgendwie wieder eine Naturlandschaft drauszumachen. Also Wege wegmachen. So gesehen ist ein „Nationalpark-Managementziel“ Wegevernichtung durchaus folgerichtig. Wie das geht, kann man im Nationalpark Harz sehen: Die Baggern da gebietsweise tatsächlich alle Wege weg! In abgeschwächter Form schlägt sich das in den Wegsperrungen nieder, die auch wir hier im Elbsandstein kennen. Wenn es aber die erste Kultivierungsleistung des Menschen in einer Naturlandschaft ist, Wege zu finden, dann ist das Aufgeben des Wegenetzes der letzte Schritt. Mit dem Aufgeben des Wegenetzes, verabschieden wir uns von unserer Mutter Erde. Wege sind unsere Spuren. Wenn die Spuren von uns Menschen nicht mehr gebraucht werden, weil es da keine Menschen mehr gibt, die diesen Spuren folgen könnten, dann sind wir – am Aussterben.

Kultur ist etwas ziemlich Zähes. Das muss irgendwo in der Kleinhirngegend verortet sein, in der auch der Selbsterhaltungstrieb seinen Sitz hat. Niemand stirbt gerne und niemand stirbt gerne – aus.

Vielleicht ist es das, weswegen wir so unseren Wegen hängen?

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