Vertrauen wagen, damit wir leben können
Dass mit dem Borkenkäfer irgendwas kommt, war klar. Aber so haben wir es uns in unseren kühnsten Alpträumen nicht vorgestellt. Der ganze große Wald ist tot. Die Thorwaldbrücke überbrückt nicht länger die Kirnitzsch. Der Fluss unter ihr scheint zum Acheron geworden zu sein, auf dem der Fährmann Charon die Toten flößt. Und über die Brücke geht es glatt in den Hades hinein:
Das hier ist ein Weg:
Da braucht man eine Säge, um durchzukommen.
Der Große Hochhübelweg führt vom Zeughaus zum Reitsteig hinauf. Hier nützt auch eine Handsäge nichts mehr:
Das Zeughaus ist übrigens die Film-Rangerstation von Fernsehranger Jonas Waldeck, wo er die niedlichen Luchswelpen streichelt, die ihm Wildbiologin Elisa mitgebracht hat. Wie heißt doch gleich die Serie?
Paradies Heimat. Sieht man auf den ersten Blick.
Außer der geschauspielerten Nationalparkverwaltung gibt es natürlich auch eine echte Nationalparkverwaltung und die muss da natürlich reagieren:
Wald gesperrt, § 13 Sächsisches Waldgesetz.
Erster Akt
Und doch ist das das nur der zweite Aufzug der großen Tragödie.
Der erste Akt heißt Wegenetzausdünnung aus naturschutzfachlichen Gründen und der wird hier schon seit 20 Jahren aufgeführt. Was war der große Wald zwischen Großem Winterberg, Zeughaus und Kirnitzschtal doch einmal für ein wunderbares Wandergebiet. Von unzähligen Wegen durchzogen, unendliche Wandermöglichkeiten. Nach 30 Jahren Nationalpark gibt es hier gerade noch ganze drei ausmarkierte Hauptwanderlinien:
- Richterschlüchte-Zschand
- Großer Hochhübelweg-Reitsteig-Hickelhöhle-Brückengrund
- Zschand-Hickelhöhle-Stimmersdorfer Weg
Doch nun haben wir hier das große Borkenkäfermikado. So ein toter Baum fällt ja irgendwann um und auf den Weg drauf. Als erstes wurde im März 2020 die Hochhübel-Reitsteig-Linie gesperrt. Im November 2020 folgten Hickelschlüchte-Stimmerdorfer Weg/-Brückengrund. Anfang 2021 wurde dann der letzte noch verbliebene Weg, die Richterschlüchte dichtgemacht. Und jetzt haben wir da das, wovon böse Zungen behaupten, dass das so schon immer die Zielvorstellung gewesen sei – ein riesengroßes menschenleeres Totelreservat. Kyrie eleision.
Ein Blick in die Karte
Was ist das für eine Riesenlandschaft, durch die nun kein einziger richtig erlaubter Weg mehr führt? Vom Großen Winterberg bis zur Kirnitzsch bei Hinterdittersbach sind es 6,2 Kilometer. Das ist etwa so weit, wie von Lichtenhain bis nach Saupsdorf oder von Stadt Wehlen bis nach Hohnstein. Rathen, Bastei, Polenztal – das passt da alles rein. Ohne einen einzigen Weg. Die Fläche von Schrammsteinen und Affensteinen zusammengenommen. Das muss man sich einmal vorstellen.
Ich will der Nationalparkverwaltung ja gar nicht unterstellen, dass das alles schon immer so beabsichtigt war. Dass die Altsperrungen und der Borkenkäfer von vornherein abgekartet waren. Schon immer gab es ja auch gemäßigtere Naturschützer die den Wanderer doch nicht ganz so als apokalyptischen Hauptnaturzerstörer gesehen haben und sich gefreut haben, wenn es ein paar Menschen in der Natur gibt. Und selbst die von der hartgesottenen Sorte werden sich 1990 wohl kaum vorgestellt haben, so ein Gebiet wandermäßig völlig plattzumachen.
Aber es passt „zufällig“ sehr gut auf so Naturschutzstudien von der Nationalpark-Webseite. Es gibt eine „touristische Übernutzung“, die „einzuschränken ist“. Der „Besucherdruck ist zu vermindern“, hierzu ist „die Wegdichte zu verringern“, dazu sind „Maßnahmen der Wegauflassung und des Wegrückbaus“ erforderlich. Die Naturschutz-Professoren und -professorinnen, die so etwas schreiben, sind ja nicht dumm. Haben die das wirklich nicht so gemeint?
Physikalischer Exkurs: Außerdem sollte man, wenn man schon so physikalische Größen wie „Besucherdruck“und „zu hohe Belastung“ auf den Wanderer überträgt, auch mal das Boyle-Mariottsche Gasgesetz der isothermen Zustandsänderung beachten. Wenn man schon feststellt, dass der Druck zu hoch ist, ist es doch das allerblödeste, das Volumen kleiner zu machen. Dann fliegt der Kessel doch nur umso schneller in die Luft. Wenn ich schon Wege massenhaft sperre und das Wandern quadratkilometerweise verbiete, brauch ich mich doch überhaupt nicht zu wundern, wenn der „Druck“ in den restlichen Gebieten noch mehr ansteigt. Ende physikalischer Exkurs.
Also, nun steht er eben da, der große abgestorbene Wald und in den nächsten Jahren werden die Bäume nach und nach alle umfallen. Borkenkäfermikado. Ein paar Dutzend Bäume reichen und ein Weg ist unwegsam. Und natürlich würde die Nationalparkverwaltung Wege schon gern wieder freisägen, aber das hat nicht viel Sinn. Denn der herumstehende Baumvorrat reicht noch eine ganze Weile. Da fallen dann immer wieder neue Stämme drüber. Und gefährlich ist es ja auch.
Da ist nun also guter Rat teuer.
Vertrauen wagen, damit wir leben können
Doch es gibt auch Hoffnung.
Ich darf vielleicht nicht so viel Studien lesen. Neulich, als ich wieder einmal im Kirnitzschtal hinterwanderte, hielt plötzlich ein Auto der Nationalparkverwaltung neben mir. Der diensthabende Ranger hat mich freundlich begrüßt, wir haben uns ein wenig über den Wald unterhalten und natürlich war da der Borkenkäfer ein Thema. Er hat mir gesagt, dass er das mit den Wegen auch ganz schlimm findet. Und ich hab ihm gesagt, dass ich mich freue, wie licht das Kinrnitzschtal auf einmal wieder ist. Und auch sonst treffen wir uns ja immermal draußen im Wald.
Die Ranger sind oft alte Forstleute. So einen Beruf ergreifst du ja nicht, weil du einen besonders technokratischen Stadtjob machen möchtest, sondern weil dein Herz ein wenig für die Natur schlägt. Und es ist ja keine Gehässigkeit, dass sie jetzt die Wege sperren, sondern ihr Job wegen der Wegsicherungspflicht. Also ich glaube schon, dass die Nationalparkverwaltung da wirklich ein wenig ratlos ist. Und dass schon der Wille da ist, die Wege zu erhalten.
Am Nordende des Reitsteiges habe ich ein Schild entdeckt. Auch dies gibt ein wenig Hoffnung, wenn man es sich etwas genauer durchliest:
Das steht „gegenwärtig nicht begehbar“, was auf ein künftiges Freischneiden ja implizit hinweist. Auch bedeutet „vorübergehend gesperrt“ keinesfalls entgültig gesperrt. Wir sollten Vertrauen wagen und nicht schon voreilig Arges argwöhnen. Klar kann „gegenwärtig nicht begehbar“ „künftig auch nicht begehbar“ einschließen und was „vorübergehend gesperrt“ ist, kann auch mal „entgültig gesperrt“ sein. Es gibt aber nur eine Möglichkeit, die in die Zukunft führt: Vertrauen wagen, damit wir leben können.
Denn unsere Wege sind nun einmal unsere eigenen Spuren, Spuren unseres Seins im Wald und damit unser eigenes Leben.
2021 wurden zum Glück Richterschlüchte und Hickelschlucht-Übergang wieder freigeschnitten.
Und dann ist 2022 ein Wunder geschehen. Das war ja das erste Jahr mit dem schlimmen Boofenverbot (01.02.-15.06.) und dann der Waldbrand. Fast unbemerkt ist aber eines passiert: Auch der Reitsteig wurde von der Nationalparkverwaltung freigeschnitten. Das ist deswegen ein Wunder, weil ich den schon völlig aufgegeben hatte, 2 Kilometer mit teilweise einem Mikadobaum pro Meter. Das haben die nicht mit Harvester oder Schreitbagger gemacht (wäre damit dar nicht gegangen), sondern motormanuell. Da guckste. Dafür ein herzliches Dankeschön.
Hinweise für das Draußensein
- Der Wald ist zwar tot, aber deswegen nicht uninteressanter als früher.
- Wenn Unterwuchs da ist, wird bald schon wieder ein Wald hochwachsen. Oft gibt es aber auch keine Vegetation unter den toten Monokulturen. Das könnte dann erst einmal ein paar Jahre ein ganz schönes Brombeergestrüpp werden.
- Die Sturmtiefs Lothar, Friederike und Sabine haben uns gezeigt: Bäume fallen massenhaft bei Wind und Sturm. Auch Schneelast ist gefährlich.
- Ansonsten aber nicht verrückt machen lassen. Bei 1000 Bäumen pro Hektar und 20 Jahren „Umbruchzeit“ fallen „statistisch gesehen“ gerade einmal 4 Bäume pro Monat und Hektar um. Im Durchschnitt wird es also insgesamt recht gemächlich abgehen.
- Das heißt aber auch: Auf das Wetter achten und nur bei stabiler Windstille rausgehen. Da kommst du aber gewiss auch von alleine drauf. Denn schon der zweiten Baum, den du in einem Umkreis von vielleicht 200 Metern umbrechen hörst, wirst in dir ein starkes Urgefühl auslösen: Todesangst. Dann nichts, wie raus aus dem Wald.
- Niemals unter Hängern (schräg in anderen Bäumen hängen gebliebenen Stämmen) durchgehen. Das ist lebensgefährlich.
- Ab einer gewissen Anzahl querliegender Bäume wird das Durchkämpfen sehr beschwerlich, bis hin zu völliger Unpassierbarkeit. Der nördliche Reitsteig geht z. B. gar nicht mehr.
- Die alten Höhenwege wie Auerhahnsteig und Thorwaldwand-Gratweg sind, da nicht von Fichtenmonokulturen umgeben, nur gering vom Verbruch betroffen. Es liegt aber gerade darin eine Tragik, gelten diese doch als „naturschutzmäßig besonders streng gesperrt“, was ja durchaus auch allgemein akzptiert ist. Doch wird es ohne diese Wege vielleicht gar nicht mehr gehen, wenn die Landschaft einst wieder zugänglich gemacht werden soll, und alle anderen Wege unwiderbringlich verloren gegangen sind. Gäa steh uns bei!
- „Eine kleine Handsäge gehört ins Wandergepäck“ titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits vor einigen Jahren. In massivem Brombeergestrüpp ist eine kräftige Gartenschere hilfreich.
Natur ist eine Urgewalt, die uns oft anders begegnet, als wir es uns wünschen. Und anders als wir es uns dünken, können wir nichts machen, als uns dem langsamen Wirken der Götter anzuvertrauen.
Aber gerade deswegen gehen wir ja raus. Dann mal los, Wanderer und Wanderin. Es wird auch von dir abhängen, ob die Berge der Sächsischen Schweiz auch künftig noch zugänglich sein werden. Oder ob du als „Nationalparkbesucher“ in nochmal 30 Jahren gerade noch Auslauf vom Parkplatz bis auf die Basteiaussichts-Betonplatte kriegst, die die da gerade frisch hinbetonieren.
Wie die Nationalpark-Studienschreiber das sehen, kann uns bissl egal sein. Die Ranger, denen wir hinten im Wald begegnen, werden uns herzlich begrüßen, denn ein Vorteil wird künftig auch sein, dass sich da wirklich nur noch Leute in die Hinteren Wälder hineintrauen, die eine gewisse Mühe für das Draußensein nicht scheuen. Auch das kann uns mit der Nationalparkverwaltung versöhnen.
So und nun, Böhm, weg vom Computer. Raus in den Wald. Da geht ein Weg lang:
Dann mal los. Denn was kann es Schöneres geben, als eine Winterwanderung in so einem unberührten, tief verschneiten Wald.
Ich bedanke mich herzlich bei Roland Leskau für die Anregung zu dieser Seite.
26.01.2021 Initial
27.01.2021 Passender Aufsatz dazu: Dirk Schulze: Totholz blockiert Wege im Nationalpark. Sächsische Zeitung Pirna
06.02.2021 Es heißt Wanderin und nicht Wandererin. Ich muss noch bissl üben mit dem generativen Feminitiv. Auch ist es nicht das
Gay-Lussacsche Gasgesetz (dies beschreibt nämlich die hier nicht zutreffende isobare Zustandsänderung), sondern das
Gasgesetz von Boyle-Mariotte und die isotherme Zustandsänderung, die wir
auf die Wanderwegvolumen-Besucherdruck-Funktion anwenden. Entschuldigung, kleiner peinlicher Fehler.
03.02.2023 Reitsteig freigeschnitten