Friedrich und der Milleschauer
Mit einer am 18. und 19. Mai durchgeführten Ringexkursion eröffnete das Caspar-David-Friedrich-Kuratorium Greifswald – Sebnitz-Schönbach – Bad Schandau seine Veranstaltungssaison Frühjahr/Sommer 2011. Die erste Veranstaltung des Jahres führte die Exkursionsteilnehmer in das Böhmische Mittelgebirge, einem Kerngebiet Friedrichschen Wirkens, um im direkten Kontakt mit dem Toporaum Schaffensspuren des Meisters aufzuspüren – oder dies zumindest zu versuchen.
Der Milleschauer. Fikition. Realität. Fluchtpunkt. Symbol. Vgl. hier auch den tschechischen Wortstamm dal(e), daleký, daleko, svw. weit, weiter. Wanderverheißung. Sehnsucht nach Idylle. Weltflucht. Böhmisches Mittelgebirge als prototypische Projektionsfläche frühromantischer Fernweherfüllung.
Den Milleschauer. Man kann ihn bei guter Sicht vom Wachberg aus sehen. Also hin.
Ouvertüre
Die Ferne ist dank der 1874 erbauten Österreichischen Nordwestbahn greifbar geworden. Und doch angenehm fern geblieben. ČD-Kursbuchstrecke 072, ab Bad Schandau 8:25 Uhr, über Aussig (Ústí nad Labem) an Groß Tschernosek (Velké Žernoseky) 9:36 Uhr. (Vgl. hier auch Ludwig Richters Beschreibung seiner Reise nach Rom 1823, Reprint Dresden: Hellerau 2010).
Bahngleise in Groß Tschernosek
Wo Romantik zu Hause ist. Aber hier eher Ludwig-Richter-Romantik.
Ausgelassenes Volk hinausziehend in den Frühling
Hinunterspazierend zum Ufer. Dort sich sammelnd in hübscher Staffage zu prototypischer Flussquerung. Überfahrt über die Elbe nur wenige Kilometer oberhalb des Schreckensteines. Das Harfenmädchen mit dem schönen Namen Ludmila als Namenspatronin des Fährkahnes und Gefährtin des Fährmannes.
Die schöne Ludmilla
Im Hintergrund lockt bereits bereits der Lobosch. Dort hinauf? Ja, aber nur als – Ouvertüre.
Dann Aufstieg auf den mächtigen Pfeiler über der Porta Bohemica. Dabei erstmaliges Sichtbarweden des Milleschauers oder Donnersberges in fernem Dunst.
So mag Humboldt den Cotopaxi erschaut haben
Abstieg vom Lobosch über dessen Nordflanke. In der Ferne eine Großbaustelle erkennbar werdend, die in Errichtung befindliche Autobahn D8. Sich zwischen Betrachter und Hintergrund schiebende, abtrennende, zertrennende, unüberwindbar, unüberquerbar erscheinende Quer-Barriere, traumatischer Bildschnitt, in romantischer Bildauffassung undenkbare De-Komposition, Zerteilerin, das Dieseitige abgrenzend, vollendend, Jenseitigkeit transzendierend, Endlosigkeit, Unendlichkeit, Raum, Ende, Autobahn.
Autobahn. Wer denkt da nicht an Mattheuer: Hinter den sieben Bergen
Über den Acheron
Nun an die Errichtungsstätte der Dalnice D8 herangekommen. Erschrecktes Aufwachen. Wirkende Eisenflechter, Zimmerleute und Betonbauer. Rauschende Inbaubefindlichkeit irdischen Menschenwerkes in unendlicher Landschaft. Naturdurchquerung, Naturdurchdringung. Wir wähnen uns beim Bau der Teufelsbrücke über den St. Gotthard. Urgedanken der Romantik. Carl Blechen 1830, Neue Pinakothek München.
Zwei Wanderer in Betrachtung des Milleschauers
Wie mag man da drüberkommen?
Wanderweg gelber Strich
Doch da, am Befestigungsrohr des Verkehrszeichens – eine Wanderwegemarke. Sicherheit gebend. Den Weg zuverlässig weisendes Hoffnungssymbol. Übrigens in Rapsgelb, der Farbe des blühenden Feldes hinten, so also auch Leben, Blüte, Fruchtbringung darstellend. Ein wie achtlos hingeworfen erscheinendes Stapelholz im Eisenarmierungswerk vorn weist den Berggipfel ...
Dalnice bedeutet „weiter“. Das gelbe Zeichen zeigt den Weg. Also Vorwärts ...
Dank der im Exkursionsteam vorhandenen Hochalpenerfahrung beherzter Einstieg in den Quergang. Nur ganz erfahrene Bergführer sind in der Lage, beim Abstieg in den Khumbu-Eisfall eine noch vollkommenere Figur hinzulegen ...
Hinab. Abwärts
Die Überwindung des Acheron ...
Über den Acheron
Der Eintritt ins verheißene Gebirge ...
Das Mittelgebirge
Wo hat Caspar David Friedrich gezeichnet?
Und gleich zieht uns der Milleschauer in seinen Bann ...
Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? ...
Das führt zu der alten Frage hin, ob denn nun der rechte oder linke Berg der Milleschauer sei. Laut dem alten 1974er Dresdener (Zweihundertjahr)-Ausstellungskatalog ist der Milleschauer der linke Berg.
Hingegen führt mein CDF-Handbuch (Walther, Angelo: Caspar David Friedrich. Berlin: Hentschelverlag 1983, Nr. 4) aus: „dem südöstlich von Teplitz gelegenen Milleschauer rechts im Bild, und dem etwas niedrigen, aber näher gelegenen Kletschen links“. Wir haken nach und finden auch bei Karl-Ludwig Hoch (Caspar David Friedrich und die Böhmischen Berge, Dresden: Verlag der Kunst 1987, S. 100) dies bestätigende Auskünfte. Laut Sigrid Hinz (Dissertation Greifswald 1966, zit. n. Hoch) ist die Zeichnung „Böhmische Landschaft mit Kruzifix und Kapelle“ (Friedrich 1807) eine Vorstudie des Bildes. Hoch lokalisiert nun deren Aufnahmeort am Südhang der Stephanshöhe vor Teplitz. Wir blicken also von Nordwesten in das Böhmische Mittelgebirge. Der Berg rechts ist der Milleschauer und der linke Berg ist der Kletschen oder Kleine Milleschauer.
Böhmische Landschaft mit Kruzifix und Kapelle, Reproduktion aus Hoch S. 101.
Ja, es klappt eigentlich wunderbar ...
... gäbe es da nicht die Kapelle im Vordergrund.
Man lese nun aber Hoch ganz genau: „Es wird wohl stimmen, was Eva Reitharová [...] feststellt: ,Kapelle und Kreuz sind kompositionelle Zutat.‘ Das wäre für eine Zeichnung Friedrichs erstaunlich, [sic!] denn seine Landschaftszeichnungen sind meistens um eine naturgetreue Wiedergabe bemüht.“ Ende Zitat Hoch.
Eben. Hier stimmt irgendetwas nicht. Wir suchen den zweiten markanten Berggipfel. Man müsste den Aufnahmestandpunkt 2 Kilometer nach links verlegen und ... etwas weiter bergan. Gleich hinter Suttom liegt der Kostial, also hinauf auf die alte Trutzburg:
Hier nun die ganze Szenerie um 180 Grad gedreht. Milleschauer und Kletschen haben ihre Positionen getauscht. Der Milleschauer ist nun der linke, etwa bildmittig stehende Berg. Der Kletschen ist rechts in das Bild hinzugetreten.
Auch der horizontschneidende kleinere Gipfel gleich links vom linken Hauptgipfel passt. Es ist nun allerdings nicht mehr der (Hochsche) Kubackaberg, sondern der Franzberg (Francká hora, 665 m).
Nicht bei Friedrich erscheinen der große Berg im Mittelgrund der Fotografie, der Suttomir oder Suttomer Berg (505 m), sowie der Wostray (Ostrý oder Scharfenstein, 552,6 m), direkt vor dem Milleschauer. Es ist allerdings nicht untypisch für Friedrichs Kompositionsweise, Motivteile wegzulassen.
Aber, Moment mal ... die Kapelle! Bitte den Bildmittelgrund etwas heranzoomen ...
Das ist hier jedenfalls keine kompositionelle Zutat. Die Fotografie zeigt zweifelsfrei die alte Barockkirche vom Suttom.
Finale
Hat Friedrich den Milleschauer nicht von Teplitz aus, sondern doch von Süden aus aufgebaut? — Man achte auch einmal auf die Bergformen. Welcher Berg sieht wie der Milleschauer aus, und welcher wie der Kletschen? Lassen wir noch einmal Bilder sprechen:
Vom Kostial:
Friedrich:
Und nun ein Bild das mir freundlicherweise Heinz Höra, Berlin zugänglich gemacht hat:
URL der Quelle:
http://www.panorama-photo.net/panorama.php?pid=8642 Heinz Höra, Berlin.
Was für ein Panorama: Blick vom Wostray, von Süden. Kletschen rechts. — Kann es hier noch Fragen geben?
Was für Schätze sind doch die Bücher von Sigrid Hinz, Angelo Walther oder Karl-Ludwig Hoch. Und doch muss nicht alles stimmen, was darin geschrieben steht. Da hilft nur eines – statt Katheder- oder Computermonitor-Gelehrsamkeit: Raus in die Landschaft, Wanderer über dem Nebelmeer! Und wir werden bemerken: Ein Friedrich lässt sich einfach nicht lokalisieren.
Das ist aber gerade das Schöne an Caspar David Friedrich. Man muss nicht jedem Neurathen oder Kaiserkronenhund das GPS an die Backe halten. Es ist die wunderbare „Böhmische Landschaft mit dem Milleschauer“. Jeder der beiden Gipfel hat etwas von der Form des Kletschen. Und weil der Kletschen auch der Kleine Milleschauer genannt wird, sind es letztendlich beide – Milleschauer. Es sind prototypische Berge des Böhmischen Mittelgebirges. Solch wunderbare Berge kann man nicht vor sich sehen. Man muss sie in sich sehen. Und wir freuen uns, dass Friedrich diese wunderbaren Bilder geschaffen hat und sind dankbar dafür.
Eine schöne und ertragreiche Exkursion geht zu Ende. Wir haben dann übrigens im Suttomer Pfarrhaus bei Frau Otradovcová übernachtet. Rückfahrt über Leitmeritz. Die alte, in Deutschland viel zu wenig bekannte Bischofsstadt.
Ich bedanke mich herzlich bei Dietrich Stiehr, Dresden für den Hinweis auf das wunderbare Buch von Karl-Ludwig Hoch und bei Heinz Höra, Berlin für den Hinweis auf das Panorama vom Wostray.
Links:
Panorama von Ostry (Wostray) von Heinz Höra
Panorama vom Kostial von Velten Feurich
Panorama vom Ostry (Wostray) von Velten Feurich
Nachtrag 25.06.2015:
Ein bemerkenswertes Friedrich-Zitat ist die Einblendung von Milleschauer und Kletschen in der
Visualisierung der Schienenneubaustrecke Dresden-Prag des Sächsischen
Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit (Einblendung ab 3:40). Gemeinsam mit der eingespielten „Moldau“ von Smetana
dienen die Berge hier als Symbole der Tschechischen Republik schlechthin.
Friedrich ist eben einfach zeitlos.
12.07.2011, 24.10.201125.06.2015 (Schienenneubaustrecke)
28.10.2015 (Durchsicht)