Totalreservat Sächsische Schweiz?

Vorsicht vor stillschweigender Sprachgewöhnung

Ein Nationalpark ist kein Totalreservat und auch eine Nationalpark-Kernzone ist kein Totalseservat

Kernzone

In dem Waldbrandgutachten von Prof. Müller taucht ein Wort auf, das nach meiner Meinung dort eigentlich nichts verloren hat: Das Wort „Totalreservat“.

Es ist dies ein Waldbrandgutachten, aber das ist hier nicht das Thema. Thema ist, dass Prof. Müller laufend und systematisch das Wort „Totalreservat“ benutzt und zwar als Synonym für „Nationalpark“ und „Nationalpark-Kernzone“.

Totalreservat ist kein rechtlich definierter Begriff. Kurze Volltextsuche in Bundesnaturschutzgesetz und im Naturschutzgesetz des Freistaates Sachsen: Null Treffer. (Mag sein, es gibt Treffer in subalternen Behörden-, Verordnungs- und Empfehlungstexten, das sei hier unbenommen.)

Freilich ist der Begriff in der Naturschutz-Fachliteratur gängig, gewöhnlich wird Totalreservat mit „TR“ abgekürzt. Ebenso gibt es einen allgemeinen Sprachgebrauch. Wir alle wissen ungefähr, was ein Totalreservat ist. Wenn du als Wanderer oder Wanderin „Totalreservat“ hörst, weißt du: Hier darf ich nicht rein. So auch exemplarisch das Spektrum-Lexikon der Biologie: „Totalreservat, ein Schutzgebiet, in dem jegliche Nutzung und der Zutritt untersagt sind (z.B. Bannwälder, einzelne Naturschutzgebiete oder Kernzonen von Schutzgebieten).“ Vgl. auch Wikipedia.

Moment mal. Äußerste Vorsicht. Was steht da?

In Kernzonen von Schutzgebieten ist der Zutritt untersagt. Das haben die da so reingeschrieben und es ist ja auch eingängig. Das aber bitte mal bissl weiterdenken:

 

Naturschutzbehörde: „Könnte es auch sein, dass da mit ,Schutzgebiet‘ ein Nationalpark gemeint ist?“
Wanderer: „Ja, Euer Ehren, gewiss doch.“

„Also ist die Kernzone eines Nationalparks ein Totalreservat?“
„Hm, äh, wenn man das so liest, sicherlich, äh, ja.“

„Eben. Und jetzt bitte, Angeklagter Wanderer, wie groß sind diese Kernzonen denn so in Nationalparks?“
„Also, grundsätzlich sollen das wohl etwa 75 % der Fläche sein. Laut gängigen Normen und Empfehlungen.“

„Genau, das wollen wir hier doch einmal klar herausgearbeitet haben. Mindestmaß. In einem Nationalpark wird angestrebt, dass mindestens 75 % der Fläche Kernzone und damit Totalreservat sind und damit ist da jeglicher Zutritt untersagt. Bis auf vielleicht zwei drei Wege, die wir evtl. ausnahmsweise auch in einer Kernzone zulassen können.“
„Ja, äh, aber ... äh, wir wandern hier doch schon immer ... und äh, ich dachte ... ich wollte doch nur mal in die Natur und ... “

„Nichts da und. Es ist nun mal ein Nationalpark, Wanderer. 75 % Kernzone. Und wenn es in den ersten Jahrzehnten noch keine 75 % sind, langfristig kommt man da gar nicht drumrum, internationale Verpflichtung. Und eben, Kernzone ist Totalreservat. Und in einem Totalreservat ist jeglicher Zutritt untersagt. Das dient dem Schutz der Natur vor dir, Angeklagter Wanderer. Denn du machst die Natur kaputt und du störst und du verureinigst und du vermüllst und verursachst Trittschäden und beunruhigst geschützte Tiere und zertrittst geschützte Pflanzen. Der Nationalpark ist eines der allerletzten Refugien der reinen und unberührten Natur.

Sei glücklich, dankbar und stolz auf den Nationalpark, Wanderer. Und jetzt nichts wie raus hier. Hast schon genug Schaden gemacht. Sonst kommt der Ranger und macht dir Beine.“

 

 

Hausaufgabe: Wo ist der Denkfehler?

Lösung:

  1. Ein Nationalpark ist kein Totalreservat.
  2. In einem Nationalpark gibt es zwei primäre und damit gleichberechtigte Ziele. Das ist zum einen der Naturschutz, mit dem Naturschutz aber gleichberechtigt die Erholung, Freude und Bildung des Menschen. So steht es in der IUCN-Definition des Nationalparks; der Nationalpark stellt IUCN-Kategorie II dar. Dies ist eine international allgemein anerkannte Festlegung und Empfehlung, die zwar keine in Deutschland gültige Rechtsnorm darstellt, jedoch Vorbild ist.
  3. Aber auch für eine Nationalpark-Kernzone ist in den Gesetztestexten keine andere Betretungsnorm erkennbar, wie in einem Nationalpark außerhalb der Kernzone. (Die Einführung von Kernzonen mit anschließender allmählicher, oft klammheimlicher Zerstörung der Wanderwege erfolgt typischerweise erst durch das Verwaltungshandeln der Naturschutzbehörden.)
  4. Hier durchaus auch die 75-%-Norm (die für den Kernzonenanteil in einem Nationalpark allgemein empfohlen wird) anhalten, auch wenn reale Kernzonenanteile (noch) oft kleiner sind: Kernzonen bilden regelmäßig den eigentlichen und typischen Hauptteil eines Nationalparks. Also sollte selbstverständlich auch in der Kernzone eine allgemeine nationalparkgemäße Zugänglichkeit gewahrt sein, keinesfalls ein Totalverbot.
  5. Insofern ist auch ein „Segregierungsmodell“, demzufolge sich der Wanderer mit Wandern außerhalb der Kernzone zufriedenzugeben hat, abzulehnen. Auch und gerade die Kernzone muss, weil sie ein typischer Nationalparkteil ist, der Erholung, Freude und Bildung des Menschen dienen und umfassend betretbar und erlebbar sein. Mit dem Abdrängen des Wanderers in eine (sich langfristig auf ≤25 % Anteil verkleinernde) Rest-Nichtkernzone ist kaum noch ein umfassendes Landschaftserleben möglich: Auch die Kernzone ist kein Totalreservat.
  6. Nationalparke bilden IUCN-Kategorie II. Mit den Kategorien Ia (Strenges Naturreservat) und Ib (Wildnisgebiet) gibt es eine weitere IUCN-Schutzgebietsgruppe. Es ist unbenommen, diese als Totalreservate zu bezeichnen. Römisch I ist aber nicht römisch II. Ein Totalreservat ist ausdrücklich etwas anders als ein Nationalpark und ein Nationalpark ist eben kein Totalreservat.
In einem Kategorie-I-Gebiet mag das Wandern verboten sein. Daraus kann man jedoch nicht ableiten, dass sich dies in einer Art Analogieschluss auf Kategorie II übertragen würde, insbesondere dadurch nicht, dass man allmählich damit anfängt, einen Nationalpark (oder dessen Kernzone) Totalreservat zu nennen.

Den Nationalpark Sächsische Schweiz (oder dessen Kernzone) als Totalreservat zu bezeichnen, ist unpräzise, von irreführender und tendenziöser Art, letztendlich und zusammengefasst eins: falsch.

Sehr gut. Schulnote 1. Setzen.

 


Nachtrag 04.03.2023: Vielleicht ist es aber gar kein Zufall oder Versehen, wenn der Nationalpark Sächsische Schweiz (IUCN II) allmählich in Richtung Totalreservat (IUCN Ib) abzudriften scheint? Drei soeben aufgefundene Veröffentlichungen werfen ein neues Licht auf die Sache. Es könnte durchaus eine Strategie des deutschen und europäischen Naturschutzes sein, Nationalparks langfristig in Wildnisgebiete umzuwandeln (und dabei die Zugänglichkeit stark einzuschränken). Und Prof. Müllers „Versprecher“ ist gar kein „Versprecher“, sondern eine bereits intern im Umweltministerium allgemein übliche Bezeichnungsweise? Hier unsere ausführliche Recherche.


04.02.2023 Initial. Es können noch einige Tippfehler drin sein.
04.03.2023 Nachtrag

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